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Spinnen und Weben gegen die Armut im 18. Jahrhundert

Zeitstrahl: 1761

Oder wieso man im Seetal so jung heiratete?

Berner Manufakturmandat von 1719
Berner Manufakturmandat von 1719. (Stadtarchiv Lenzburg II A 89, 36)

In seiner «Promenade dans une partie de l’Argovie en 1794» berichtet der Waadtländer Pfarrer Philippe Sirice Bridel (1757-1845) von seinem Besuch im Seetal: «Von 1701 bis 1790 hat sich die Bevölkerung mehr als verdoppelt, indem sie sich um nicht minder als 2373 Seelen vermehrte. Bey diesem ungeheuern Anwachs der Volksmenge würden die Landesprodukte dieser Pfarrgemeinde zum Unterhalt der Bewohner durchaus nicht hinreichen, wenn der ungemeine Fabrikfleiss derselben ihnen nicht zu Hülfe käme. Wirklich werden hier Jahr für Jahr 30'000 Stücke Tuch, von 15 Stäben jedes verfertigt, welche die Kaufleuthe in den benachbarten Städten an sich bringen. Indessen schadet diese Arbeit dem Ackerbau, der sich hier ebenfalls auf recht gutem Fuss befindet, nicht das geringste. Man heyratet sehr frühe, und zwar mehr noch unter dem Webergeschlechte als bey den Güterbesitzern.»

Bevölkerung der Herrschaft Hallwil im 18. Jahrhundert
Bevölkerung der Herrschaft Hallwil im 18. Jahrhundert. (nach Siegrist (1957), S. 3.)

Tatsächlich entwickelte die Bevölkerung von 1693 bis 1803 rund um den Hallwilersee rasant. Zwei Beispiele: Während sie sich in Tennwil verdoppelte, verdreifachte sie sich in Meisterschwanden beinahe. Zwar wuchsen die Bauernfamilien mit Grundbesitz, aber ihre Äcker und Weinberge gaben nicht mehr her als in den Jahrhunderten zuvor. Vor allem stieg die Zahl der als Tauner bezeichneten Tagelöhner an. Sie besassen im besten Fall einen Hausteil als Dach über dem Kopf, einen eigenen Garten und wenig Land für eine oder zwei Ziegen. Deshalb beschäftigten sich die Tauner und ihre Familien mit der Herstellung von Textilien. Die Baumwolle dazu stammte aus dem damaligen Osmanischen Reich, namentlich aus den Häfen von Saloniki, Zypern, Smyrna, Jaffa und Adana. Erst nach 1780 erreichten das Seetal bessere Qualitäten aus der Karibik, wo afrikanische Sklavinnen und Sklaven den begehrten Rohstoff auf Grossplantagen pflückten.

Berner Obrigkeit greift zweimal durch

Viele Familien um Seengen und Meisterschwanden konzentrierten auf das Spinnen, Spulen und Weben von normierten Baumwollgeweben. Die Rohbaumwolle bezogen sie von Verlegern, auch Fergger genannt, die ihnen das gesponnene Garn oder die Gewebe wieder abkauften und je nach Reinheit und Feinheit vergüteten. Es handelte sich um Zwischenprodukte. Die sogenannten Tücher von je 18 Metern Länge gelangten in die Zeugdruckereien in Lenzburg, Niederlenz, Othmarsingen, Schafisheim und Wildegg. Praktisch die gesamte Produktion ging über den Grosshandel in Aarau und Lenzburg anfänglich nach Frankreich, später nach Italien.

Struktur der Fabrikantenschicht in den Messkreisen Seengen und Meisterschwanden 1790-1794
Struktur der Fabrikantenschicht in den Messkreisen Seengen und Meisterschwanden 1790-1794. (Siegrist (1957), S. 14)

Die ehemalige Herrschaft Hallwil, die am westlichen und am nördlichen Ufer des Sees liegt, zählte zur bernischen Landvogte Lenzburg. Die Berner Obrigkeit mischte sich selten in wirtschaftliche Angelegenheiten ein. 1719 tat sie das aber mit Nachdruck. Sie förderte mit dem Manufakturmandat den Bau und Betrieb von mittleren Gewerbebetrieben, gerade in der Textilproduktion. In dieser Phase gelang es einigen einfachen Webern, zu Fabrikanten aufzusteigen, die ihre eigene Unternehmung aufbauten. Die meisten von ihnen blieben klein. Einzig in Meisterschwanden und Fahrwangen gaben wenige Grossverleger und eigentliche Industrielle den Ton an.

Baumwollverleger und ihre Produktion in der Herrschaft Hallwil 1786-1797
Baumwollverleger und ihre Produktion in der Herrschaft Hallwil 1786-1797. (Siegrist (1957), S. 20)

Bern griff 1761 noch einmal durch, um Qualität und Mass garantieren zu können. Dabei entstand der amtliche Funktionär des Tuchmessers, eine weitere Möglichkeit zum sozialen Aufstieg. Mit der napoleonischen Kontinentalsperre (1806-1813) allerdings verlor die Baumwollspinnerei und -weberei in der Gegend ihre Bedeutung. Gleichzeitig entstanden Fabriken, wo wasser- und dampfgetriebene Maschinen die strengste Arbeit verrichteten. Damit war die Grundlage gelegt für die Verbreitung der im benachbarten Freiamt blühenden Stroh- und Geflechtindustrie. (pze)

Hier geht es weiter:

  • Webseite zur Industriekultur am Aabach zwischen Seengen und Wildegg
  • Siegrist, Jean Jacques: Die Baumwollindustrie des 18. Jahrhunderts in der ehemaligen Herrschaft Hallwil. Separatdruck aus der «Heimatkunde aus dem Seetal», 31. Jg., Seengen 1957.
  • Meier, Bruno: Wirtschaftspolitik vor 300 Jahren. Das bernische Manufakturmandat von 1719 und die Anfänge der Protoindustrie im Kanton Aargau. In: Argovia, Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau 131 (2019), S. 96102.
  • Holenstein, André (Hg.): Berns goldene Zeit: das 18. Jahrhundert neu entdeckt. Bern 2008.