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Meisterschwanden als Zentrum der Strohindustrie

Zeitstrahl: 1850

Industrialisierung im Bauerndorf im 19. Jahrhundert.

Briefkopf Firma Hans Fischer
Briefkopf der Firma Hans Fischer und Co. (Sammlung Gemeinde Meisterschwanden)

Die Ansiedlung der Strohindustrie ab 1840 prägte die Entwicklung von Meisterschwanden wesentlich. Innert weniger Jahre avancierte die Gemeinde zu einem der bedeutendsten Standorte der aargauischen Strohindustrie neben deren Hauptzentrum Wohlen, was die soziale und bauliche Struktur des einstigen Bauerndorfes nachhaltig veränderte.

Bereits im frühen 19. Jahrhundert hatte im Seetal die Strohflechterei auf Kosten der Baumwollspinnerei und -weberei an Bedeutung gewonnen. Vor allem Frauen stellten in manueller Heimarbeit Geflechte her, die von Unterhändlern an die Freiämter Strohfabrikanten geliefert wurden. 1846 kam es in Meisterschwanden zur Gründung der Firma Sulzgeber, Ackermann & Cie. Dahinter steckten mit J.U. Sulzgeber nicht nur der langjährige Buchhalter der Firma Jacob Isler & Co in Wohlen und der Unterhändler Friedrich Ackermann. Beteiligt waren mit dem Unterhändler Johann Fischer (1794–1879) und seinem Sohn Johann Fischer-Eichenberger (1824–1893) auch zwei Mitglieder einer alteingesessenen Familie, die in der Folge bei der Entwicklung der Strohindustrie in Meisterschwanden die zentrale Rolle spielen sollte.

Dorfpartie Bündlihaus
Fabrik- und Bürogebäude der Fischer Gebrüder (links) neben Fabrikantenvilla (rechts) im späten 19. Jahrhundert (Rodel 1961)

Sulzgeber, Ackermann & Cie. konnte sich im Markt rasch etablieren. 1851 war die Firma an der Weltausstellung in London bereits mit einem eigenständigen Auftritt vertreten, ein Jahr später setzte sich J.U. Sulzgeber als reicher Mann zur Ruhe. In den folgenden Jahren kam es im Seetal zu mehreren Neugründungen, personellen Wechseln und Beteiligungen. Daraus gingen in Meisterschwanden mit den Firmen Fischer Gebrüder und Hans Fischer zwei grosse Unternehmen hervor. Daneben entstanden diverse weitere kleinere Fabriken, so etwa Bleichereien als Hilfsgewerbe oder eine Strohhutfabrik (Hüetli).

Vom Handwerk zur Industrie

Die Firma Fischer Gebrüder, die später auch Filialbetriebe in Fahrwangen und Sarmenstorf unterhielt, sollte für die gesamte Strohindustrie eine bedeutende Rolle erlangen. So gehörte sie zu den Vorreitern bei der Umstellung von der manuellen Flechterei auf maschinellen Betrieb. Hatten ab den 1840er-Jahren bereits einfache Flechtmaschinen die Heimarbeit erleichtert, so verlagerte sich der Betrieb nach der Jahrhundertmitte zunehmend in die Fabriken, wo eigentliche Flechtmaschinenparks entstanden. Zum Antrieb nutzte man Wasser- und Dampfkraft. Daneben arbeiteten zahllose Männer und Frauen im Seetal, Wynental und Ruedertal sowie im Kanton Luzern zu Hause für die Strohfabriken – meist für geringen Lohn. Auch Kinderarbeit war in armen Familien weit verbreitet.

Die Bezeichnung Strohindustrie täuscht darüber hinweg, dass die Branche schon im 19. Jahrhundert neben dem ursprünglich verwendeten Roggenstroh mehr und mehr andere, meist importierte Rohstoffe verarbeitete. Vor allem Rosshaar fand schon früh Verwendung in der Geflechtindustrie, aber auch Baumwolle, Hanf, Bast, Seide oder die auch als Chinagras bezeichnete Ramiefaser kamen im Lauf der Zeit zum Einsatz. Im frühen 20. Jahrhundert lösten halbsynthetische und synthetische Rohmaterialien die Naturprodukte ab.

Geflechtmuster
Muster von Rosshaar-Garniturarikeln der Fischer Gebr. (Rodel 1950).

Produziert wurden Strohgeflechte in unzähligen Varianten, mehrheitlich Halbfabrikate, die exportiert und am Ort ihrer Bestimmung zu Produkten wie Strohhüten weiterverarbeitet wurden. Eine grosse Bedeutung erlangten die Bändeliflechterei, also die Herstellung schmaler Strohstreifen zum Verflechten, oder Garniturartikel wie Bordüren, mit denen Hüte oder andere Modeprodukte verziert wurden.

Höhepunkt um 1900

Um die Jahrhundertwende arbeiteten in Meisterschwanden gegen 1000 Menschen in der Strohindustrie. Da ihre Produkte stark modeabhängig waren, bestanden jedoch saisonale Unterschiede. Der Hauptteil der Produktion erfolgte im Winter, dann wurden am meisten Arbeitskräfte benötigt. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter waren in den Sommermonaten in der Landwirtschaft oder im Gastgewerbe beschäftigt.

Die niedrigen Löhne und langen Arbeitszeiten führten 1911 zu einem Arbeitskampf. Nachdem Verhandlungen über bessere Arbeitsbedingungen erfolglos geblieben waren, kam es im April zur Gründung einer Gewerkschaft. Die Unternehmer der drei grossen Firmen in Meisterschwanden und Fahrwangen, Fischer Gebrüder, Hans Fischer & Co. und Henry Schlatter, reagierten mit der Entlassung der Rädelsführer und der Aussperrung aller Gewerkschaftsmitglieder. Mehrere Vermittlungsversuche scheiterten. Die Unternehmer setzten sich auf der ganzen Linie durch, zahlreiche Arbeiter verloren ihre Stelle.

Kontor Hans Fischer
Kontor (Büro) der Hans Fischer und Co. (Kuhn 1991)

Nach dem Ersten Weltkrieg verlor die Produktion von Strohgeflechten rasch an Bedeutung. In den Wirtschaftskrisen der Zwischenkriegszeit brach die Nachfrage ein und sollte das vorherige Niveau nie wieder erreichen. Bereits 1920 verschwand mit Fischer Gebrüder das jahrelang grösste Unternehmen in Meisterschwanden von der Bildfläche. Nach dem Tod des letzten Teilhabers wurde die Firma liquidiert, der Wohler Strohunternehmer Leo Dubler übernahm die Fabriken. Die Strohhutfabrik im Hüetli ging Ende der 20er-Jahre ein. Hans Fischer & Cie sollte in zunehmend reduziertem Betrieb noch bis 1983 weiter produzieren. (sst)

Hier geht es weiter

  • Kuhn, Dieter u.a.: Strohzeiten. Geschichte und Geschichten der aargauischen Strohindustrie. Aarau 1991.
  • Rodel, Gottlieb: Die Strohindustrie im aargauischen und luzernischen Seetal. Separatdruck aus der «Heimatkunde für das Seetal». Fahrwangen 1950.
  • Rodel, Gottlieb: Leben und Vergänglichkeit in der aarg. Stroh- und Hutgeflechtindustrie. In: Der Lindenberg, Mai/Juni 1961 (dreiteilige Serie).